In heiklen Situationen, die uns an unsere Grenzen bringen, zu erkennen, wo Gefühle eine Rolle spielen, wo Lernen stattfindet – das ist nicht leicht. Wir haben viele Geschichten erlebt und gehört, die man im Nachhinein gut erklären kann. In der folgenden Geschichte schauen wir mal genau hin, was hier zu der Situation geführt hat und wie sie sich auflösen lässt:
Die Geschichte vom Sandkasten
Nina ist fünf Jahre alt. Sie geht sehr gern in den Kindergarten. Am liebsten spielt sie im Sandkasten, wenn es am Vortag geregnet hat, weil man dann so schön Burgen und Tunnel bauen kann. So auch an diesem Tag. Am Vormittag errichtet sie über mehrere Stunden eine Schlosslandschaft. Es gibt sogar einen Burggraben mit Brücke und mehrere Türme. Sie ist mächtig stolz auf ihr Werk und betrachtet es gerade ausgiebig, als genau in diesem Moment Katrin, ein anderes Kindergartenkind im Alter von sechs Jahren, quer über ihr Bauwerk läuft und dadurch alles kaputt tritt. Nina ist fassungslos und in Bruchteilen von Sekunden holt sie mit dem Spaten aus und schlägt Katrin damit auf den Kopf. Katrin schreit vor Schmerzen auf und weint laut. Alles geschieht so schnell, dass Nina es sich gar nicht erklären kann. Wie gelähmt bleibt sie im Sandkasten stehen.
Drei Erzieherinnen eilen zum Ort des Geschehens und kümmern sich um Katrin. Sie hocken sich vor Katrin hin und schauen nach, ob sie verarztet werden muss. Sie versuchen, sie zu beruhigen, und trösten sie. Nina steht weiterhin regungslos, doch am ganzen Körper zitternd, daneben. Als erkennbar ist, dass Katrin keine Platzwunde hat und die kleine Beule lediglich gekühlt werden muss, steht eine der Erzieherinnen auf und geht zu Nina.
Sie beugt sich leicht von oben herab zu ihr und sagt: „Das hätte ich nie erwartet von dir. Du bist so ein böses Mädchen! Du erhältst eine Woche Sandkastenverbot. Heute zum Mittag bekommst du keinen Nachtisch und während der Mittagsruhe liegst du mit deiner Matte bei mir am Erziehertisch, damit ich dich im Blick habe.“
Nina schaut nach unten. Die Erzieherin ist aber noch nicht fertig mit ihr. „So, und jetzt gehst du zu Katrin und entschuldigst dich!“ Nina läuft mit hängenden Schultern zu Katrin, den Blick weiter auf die Erde gerichtet, hält Katrin ihre Hand hin und nuschelt leise: „Tschuldigung.“ Damit ist die Erzieherin nicht einverstanden. „Nein, Nina. Mach das richtig! Wie entschuldigen wir uns?“ Nina geht erneut zu Katrin, streichelt ihr mechanisch über den Kopf, drückt sie links und rechts und sagt mit tonloser Stimme erneut: „Tschuldigung.“
Am nächsten Tag sieht Nina Katrin in einem von den Erzieherinnen unbeobachteten Moment im Garten, rennt schnell zu ihr und kneift sie fest in den Arm.
Und nun mit der Lupe:
Nina ist sehr stolz auf sich und ihr Bauwerk. Das Gefühl der Freude durchströmt sie, füllt sie vollkommen
aus, Dopamin wird ausgeschüttet. Genau in diesem Augenblick zerstört Katrin ihre ganze Arbeit. Nina ist geschockt und zu der eben noch erlebten Freude kommt eine große Traurigkeit darüber, dass jetzt alles kaputt ist. Entsprechend
verfliegt das Glücksgefühl; ungläubig nimmt sie den Schaden wahr. Dieser Gefühlsmix ist so mächtig, dass Nina völlig perplex ist und wütend darüber wird, dass ihre ganze Arbeit umsonst war. Das Hormon Adrenalin wird ausgeschüttet;
sie nimmt das Nächstliegende, das sie findet, und haut damit nach Katrin, um sich gegen das angerichtete Unheil zu wehren. Der Gefühlscocktail ist jetzt komplett, denn als Katrin losschreit und weint, erschrickt Nina über das
Geschehene. Große Angst macht sich jetzt breit und erneut wird Adrenalin ausgeschüttet. Nina ist komplett überfordert mit all den starken Gefühlen, die innerhalb von ein paar Sekunden bei ihr ausgelöst werden. Den damit zusammenhängenden Hormonausschüttungen ist sie hilflos ausgeliefert.
Die Spatenattacke ist eine sogenannte Affekthandlung, auch Kurzschlusshandlung genannt: Die extrem starken Gefühle in dieser Ausnahmesituation entladen sich in der Tat. Nina handelt unkontrolliert und somit auch unüberlegt, es geschieht ihr einfach. Was wir in dieser Situation sehen, ist unbewusstes und gedanklich nicht steuerbares Verhalten als
Reaktion auf einen äußeren Reiz, nämlich der Zerstörung der Burg.
Am nächsten Tag, als Nina Katrin im Garten gekniffen hat, hat sie bewusst gehandelt. Sie hat sich bewusst vorgenommen, Katrin wehzutun, weil diese ihr Bauwerk zerstört hat und Nina dafür außerdem noch mehrfach von der Erzieherin bestraft wurde – obwohl doch in ihren Augen Katrin Schuld an der Situation hatte.
Wie hätte die Erzieherin achtsam damit umgehen können?
Nachdem sichergestellt war, dass Katrin von den anderen beiden Erzieherinnen versorgt wird, hätte die Erzieherin zu Nina gehen und sich hinhocken können. Sie hätte sie in den Arm nehmen und beruhigend mit ihr sprechen können, z. B.:
„Nina, du zitterst ja am ganzen Körper. Ich glaub, du hast dich ganz schön erschrocken über das, was gerade
passiert ist. Du hast dich so gefreut über deine tolle Burg und dann ist Katrin einfach darübergelaufen. Da warst du ganz doll traurig, deine schöne Burg! Und dann hast du plötzlich den Spaten genommen und nach Katrin geschlagen,
weil du dich darüber so geärgert hast, dass sie einfach alles kaputt gemacht hat.“
Wahrscheinlich würde Nina jetzt tief ausatmen, vielleicht seufzen und zur Bestätigung „Ja“ sagen. Nun wäre es
wichtig, dass die Erzieherin den Kontakt zu Nina aufrechterhält, indem sie weiterhin gehockt auf Augenhöhe bleibt, Nina durch ihre Umarmung Halt bietet und z. B. sagt: „Ich bin bei dir.“ Wenn die Erzieherin merkt, dass Ninas Atem ruhiger wird und ihr Zittern aufhört, könnte sie sagen:
„Da habt ihr euch jetzt beide ganz schön erschrocken und seid traurig. Du wegen deiner kaputten Burg und Katrin, weil du ihr mit dem Spaten wehgetan hast. Wollen wir mal nach Katrin schauen, wie es ihr geht? Möchtest du, dass ich mitkomme?“
Nina ist sich nun bewusst geworden, dass es nicht richtig war, Katrin mit dem Spaten wehzutun. Durch die Erzieherin hat sie aber Verständnis für ihre Affekthandlung erfahren. Wenn sie jetzt zu Katrin geht und sich entschuldigt, dann meint sie es auch so. Und weil sie von der Erzieherin getröstet wurde, kann sie vielleicht auch Katrin trösten. Toll wäre es, wenn die Erzieherin zum Schluss anböte, dass die beiden Mädchen nach dem Mittagsschlaf die Burg gemeinsam neu bauen können. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde Nina Katrin am nächsten Tag nicht kneifen.
Wie erleben die Kinder das Verhalten der Erzieherin?
Welche Auswirkungen könnte das auf ihr Selbstbild haben?
Aus der Sicht von Nina:
In der Originalgeschichte | Bei der alternativen Reaktion |
Ich bin böse. | Ich war sehr traurig und wütend. |
Die Erzieherin versteht mich nicht. | Die Erzieherin versteht mich. |
Katrin mag mich nicht. | Die Erzieherin mag mich. |
Katrin war nicht böse. | Katrins Verhalten hat mir wehgetan. |
Die Erzieherin mag Katrin. | Die Erzieherin mag auch Katrin. |
Die Erzieherin versteht Katrin. | Die Erzieherin versteht auch Katrin. |
Ich darf mich nicht wehren, wenn jemand gemein zu mir ist. | Als ich wütend war und Katrin geschlagen habe, hat ihr das wehgetan. |
Wenn ich mich wehre, werde ich bestraft. | Auch Katrin war traurig und wütend. |
Wenn ich mich wehre, werde ich alleingelassen. | Auch wenn ich wütend bin, ist die Erzieherin für mich da. |
Man muss sich immer entschuldigen, auch wenn der andere schuld ist. Dabei muss man den Kopf streicheln und den anderen drücken. | Ich wollte Katrin nicht wehtun, deshalb habe ich mich entschuldigt und sie gedrückt und getröstet. |
Ich kann mich nur heimlich rächen. | Es tut mir leid, dass ich Katrin wehgetan habe. |
Ich bin falsch, ich bin richtig. | Ich habe etwas falsch gemacht. |
Aus der Sicht von Katrin:
In der Originalgeschichte | Bei der alternativen Reaktion |
Die Erzieherin ist sofort für mich da, wenn mir jemand wehtut und ich weine. Sie tröstet mich. | Die Erzieherinnen haben uns beide sofort getröstet, weil wir beide traurig waren. |
Die Erzieherin mag mich lieber als Nina. | Die Erzieherinnen haben uns beide lieb. |
Ich habe nichts falsch gemacht. | Es war falsch, Ninas Sandburg kaputt zu machen. |
Nina ist ein böses Mädchen. Sie hat mir wehgetan. Sie ist schuld. | Nina war wütend, weil ich ihre Burg zerstört hab, deshalb hat sie mich geschlagen. |
Nina musste sich bei mir entschuldigen, aber es hat ihr nicht leidgetan. | Nina war selber traurig und hat sich geschämt, weil sie mich geschlagen hat. |
Nina hat mich gekniffen aber ich weiß nicht, warum | Die Erzieherin hat uns beide verstanden. |
Und nun mit der Lupe:
Nina ist sehr stolz auf sich und ihr Bauwerk. Das Gefühl der Freude durchströmt sie, füllt sie vollkommen
aus, Dopamin wird ausgeschüttet. Genau in diesem Augenblick zerstört Katrin ihre ganze Arbeit. Nina ist geschockt und zu der eben noch erlebten Freude kommt eine große Traurigkeit darüber, dass jetzt alles kaputt ist. Entsprechend
verfliegt das Glücksgefühl; ungläubig nimmt sie den Schaden wahr. Dieser Gefühlsmix ist so mächtig, dass Nina völlig perplex ist und wütend darüber wird, dass ihre ganze Arbeit umsonst war. Das Hormon Adrenalin wird ausgeschüttet;
sie nimmt das Nächstliegende, das sie findet, und haut damit nach Katrin, um sich gegen das angerichtete Unheil zu wehren. Der Gefühlscocktail ist jetzt komplett, denn als Katrin losschreit und weint, erschrickt Nina über das
Geschehene. Große Angst macht sich jetzt breit und erneut wird Adrenalin ausgeschüttet. Nina ist komplett überfordert mit all den starken Gefühlen, die innerhalb von ein paar Sekunden bei ihr ausgelöst werden. Den damit zusammenhängenden Hormonausschüttungen ist sie hilflos ausgeliefert.
Die Spatenattacke ist eine sogenannte Affekthandlung, auch Kurzschlusshandlung genannt: Die extrem starken Gefühle in dieser Ausnahmesituation entladen sich in der Tat. Nina handelt unkontrolliert und somit auch unüberlegt, es geschieht ihr einfach. Was wir in dieser Situation sehen, ist unbewusstes und gedanklich nicht steuerbares Verhalten als
Reaktion auf einen äußeren Reiz, nämlich der Zerstörung der Burg.
Am nächsten Tag, als Nina Katrin im Garten gekniffen hat, hat sie bewusst gehandelt. Sie hat sich bewusst vorgenommen, Katrin wehzutun, weil diese ihr Bauwerk zerstört hat und Nina dafür außerdem noch mehrfach von der Erzieherin bestraft wurde – obwohl doch in ihren Augen Katrin Schuld an der Situation hatte.
Wie hätte die Erzieherin achtsam damit umgehen können?
Nachdem sichergestellt war, dass Katrin von den anderen beiden Erzieherinnen versorgt wird, hätte die Erzieherin zu Nina gehen und sich hinhocken können. Sie hätte sie in den Arm nehmen und beruhigend mit ihr sprechen können, z. B.:
„Nina, du zitterst ja am ganzen Körper. Ich glaub, du hast dich ganz schön erschrocken über das, was gerade
passiert ist. Du hast dich so gefreut über deine tolle Burg und dann ist Katrin einfach darübergelaufen. Da warst du ganz doll traurig, deine schöne Burg! Und dann hast du plötzlich den Spaten genommen und nach Katrin geschlagen,
weil du dich darüber so geärgert hast, dass sie einfach alles kaputt gemacht hat.“
Wahrscheinlich würde Nina jetzt tief ausatmen, vielleicht seufzen und zur Bestätigung „Ja“ sagen. Nun wäre es
wichtig, dass die Erzieherin den Kontakt zu Nina aufrechterhält, indem sie weiterhin gehockt auf Augenhöhe bleibt, Nina durch ihre Umarmung Halt bietet und z. B. sagt: „Ich bin bei dir.“ Wenn die Erzieherin merkt, dass Ninas Atem ruhiger wird und ihr Zittern aufhört, könnte sie sagen:
„Da habt ihr euch jetzt beide ganz schön erschrocken und seid traurig. Du wegen deiner kaputten Burg und Katrin, weil du ihr mit dem Spaten wehgetan hast. Wollen wir mal nach Katrin schauen, wie es ihr geht? Möchtest du, dass ich mitkomme?“
Nina ist sich nun bewusst geworden, dass es nicht richtig war, Katrin mit dem Spaten wehzutun. Durch die Erzieherin hat sie aber Verständnis für ihre Affekthandlung erfahren. Wenn sie jetzt zu Katrin geht und sich entschuldigt, dann meint sie es auch so. Und weil sie von der Erzieherin getröstet wurde, kann sie vielleicht auch Katrin trösten. Toll wäre es, wenn die Erzieherin zum Schluss anböte, dass die beiden Mädchen nach dem Mittagsschlaf die Burg gemeinsam neu bauen können. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde Nina Katrin am nächsten Tag nicht kneifen.
Wie erleben die Kinder das Verhalten der Erzieherin?
Welche Auswirkungen könnte das auf ihr Selbstbild haben?
Aus der Sicht von Nina:
In der Original-geschichte | Bei der alternativen Reaktion |
Ich bin böse. | Ich war sehr traurig und wütend. |
Die Erzieherin versteht mich nicht. | Die Erzieherin versteht mich. |
Katrin mag mich nicht. | Die Erzieherin mag mich. |
Katrin war nicht böse. | Katrins Verhalten hat mir wehgetan. |
Die Erzieherin mag Katrin. | Die Erzieherin mag auch Katrin. |
Die Erzieherin versteht Katrin. | Die Erzieherin versteht auch Katrin. |
Ich darf mich nicht wehren, wenn jemand gemein zu mir ist. | Als ich wütend war und Katrin geschlagen habe, hat ihr das wehgetan. |
Wenn ich mich wehre, werde ich bestraft. | Auch Katrin war traurig und wütend. |
Wenn ich mich wehre, werde ich alleingelassen. | Auch wenn ich wütend bin, ist die Erzieherin für mich da. |
Man muss sich immer entschuldigen, auch wenn der andere schuld ist. Dabei muss man den Kopf streicheln und den anderen drücken. | Ich wollte Katrin nicht wehtun, deshalb habe ich mich entschuldigt und sie gedrückt und getröstet. |
Ich kann mich nur heimlich rächen. | Es tut mir leid, dass ich Katrin wehgetan habe. |
Ich bin falsch, ich bin richtig. | Ich habe etwas falsch gemacht. |
Aus der Sicht von Katrin:
In der Original-geschichte | Bei der alternativen Reaktion |
Die Erzieherin ist sofort für mich da, wenn mir jemand wehtut und ich weine. Sie tröstet mich. | Die Erzieherinnen haben uns beide sofort getröstet, weil wir beide traurig waren. |
Die Erzieherin mag mich lieber als Nina. | Die Erzieherinnen haben uns beide lieb. |
Ich habe nichts falsch gemacht. | Es war falsch, Ninas Sandburg kaputt zu machen. |
Nina ist ein böses Mädchen. Sie hat mir wehgetan. Sie ist schuld. | Nina war wütend, weil ich ihre Burg zerstört hab, deshalb hat sie mich geschlagen. |
Nina musste sich bei mir entschuldigen, aber es hat ihr nicht leidgetan. | Nina war selber traurig und hat sich geschämt, weil sie mich geschlagen hat. |
Nina hat mich gekniffen aber ich weiß nicht, warum | Die Erzieherin hat uns beide verstanden. |